Begegnung mit der Vergangenheit
Listen sind praktisch. Man fasst darin etwas zusammen, destilliert die Quintessenz aus seinen Gedanken, bringt sie auf den Punkt und strukturiert sie. Während die meisten Menschen solche Listen nur dazu nutzen, um ihre Einkäufe in eine Reihenfolge zu bringen, dass sie nur noch durch den Supermarkt huschen müssen, ohne nach links und rechts zu schauen, setzen andere ganze Lebenswerke auf. So ein Mensch ist Sofia, aus deren Sicht das Buch erzählt ist. Sie strukturiert ihr Leben durch das Schreiben umfangreicher Listen. Sie selbst ist Schriftstellerin und das Schreiben ist ihr somit nicht fremd. Seit sie denken kann, legt sie sich Listen an, immer dem entsprechenden Lebensabschnitt angepasst. Es gibt Listen, die sie ihr ganzes Leben lang begleiten und auch welche, die nur eine gewisse Zeit aktuell sind und dann vergessen werden. Mit diesen Listen kommt sie durch schwere Lebenskrisen und kann diese ebenso verarbeiten wie die kleinen Tücken des Alltags. Zwei dieser Krisen werden davon in diesem Buch beschrieben.
Ihre eigene Mutter, die in den 70er Jahren mit Teilen ihrer Familie aus der Sowjetunion ausgewandert/geflohen ist, schüttelt über diese vermeintliche Zeitverschwendung ihrer Tochter nur den Kopf und straft diese Tätigkeit mit zarter Verachtung ab. Was Sofia aber nicht davon abhält weiter ihre Listen zu schreiben und sei sie der einzige Mensch auf Erden, der das macht. Doch als sie den Dachboden von Großmutters Haus ausmisten soll, macht sie in einer Truhe eine Entdeckung, die alles auf den Kopf stellt. Sie merkt, dass sie in ihrer Familie doch nicht die einzige war, die Listen geschrieben hat. Irgendeine ihrer Verwandten, über den meist nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde, hat zu den Zeiten, als die Familie noch in der Sowjetunion lebte, ebenfalls solche Schriftstücke in kyrillischer Schrift angefertigt. Das dahinter ein noch größeres Familiengeheimnis steckt, erfährt sie erst, als ihre eigene Großmutter dem Tod nahe ist und Sofias Mutter dadurch auftaut und ihr alles erzählt.
Wie Schicksale aus der ehemaligen Sowjetunion noch heute wirken
Auf den ersten Blick, vor allem bei einer konzentrierten Inhaltsangabe, bohrt Lena Gorelik in ihrem Roman „Die Listensammlerin“ ganz schön dicke Bretter. Sowjetunion und Untreue zum System auf der einen Seite, ängstliche Mutter mit Angst um ihr Kind und Großmutter im Sterben, auf der anderen (nur um mal zwei Themen zu nennen). Zusammengehalten werden beide Teile durch die schon erwähnten Listen, die beiden Hauptfiguren, die sich mit ebenjenen Listen auseinandersetzen, das Leben erleichtern und diesem eine Struktur an den Stellen ihres Lebens verleihen, an denen sie nicht mehr weiter wissen. Wenn man sich das alles eben auf den ersten Blick anschaut und jemanden erklären möchte, worum es geht, kann man sich schnell verrennen und denken, dass auch das der Autorin geschieht. Doch längeres Nachdenken über eben diesen Punkt, bringt die Erkenntnis, dass Lena Gorelik sich mitnichten überhoben hat. Ihr ist ein Roman gelungen, der Tiefgang besitzt und dabei die kleinen Moment beleuchtet ohne überbordend zu erzählen. Einfühlsam nähert sich die Autorin den beiden Listenschreibern Sofia und Grischa. Sofia, die um ihre Tochter bangt, da sie einen Herzfehler hat und ihre dritte Operation am offenen Herzen bevorsteht oder Grischa, der sich in die Idee verrannt hat, sich einer Revolution gegen das System anzuschließen, was in der Zeit, als die Familie in der Sowjetunion lebte, keine so gute Idee war (ist es das heute?). Oder Sofia, deren Großmutter im Heim sitzt und an Demenz leidet oder Grischa, dessen Schwulsein über die Listen angedeutet wird und in der offen homosexuell feindlich gesinnten Gesellschaft keine Chance auf Entfaltung hat. Es wird viel erzählt über das Leben in der Sowjetunion der sechziger und siebziger Jahre und doch nur in knappen Worten angedeutet. Doch genau das reicht aus, um es an die Person zu bringen, die das Buch gerade liest und um zu verdeutlichen, wie es zu damaligen Zeiten zugegangen im Ostblock zugegangen sein muss. Das die eigene Familie ein eigenes ihrer Mitglieder verleugnet, weil er sich gegen das System aufgelehnt hat. Das das Leben trist zugegangen sein muss und das man sich, sofern man anders dachte oder leben wollte, genau das verstecken musste.
Alles wird im steten Wechsel erzählt, es wird von Vergangenheit zu Gegenwart gesprungen und umgekehrt. In beiden Zeitepochen wird Spannung aus den einzelnen Handlungsfäden gesponnen. Was passiert mit Grischa? Warum will niemand mit Sofia über ihn reden? Was macht die Angst um ihre Tochter mit Sofia? Nicht alle Fragen werden beantwortet, manches bleibt im Dunkel und doch wird man zufriedenstellend aus der Geschichte heraus geführt, einem Roman der leisen Töne, der berührt und einen mitnimmt auf eine Reise in die Gegenwart und Vergangenheit und in eine Familiengeschichte hineinzieht, die es in den Ostblockstaaten damals sicher zu Tausenden gegeben haben muss.
Weitere Besprechungen zu diesem wunderbaren Buch findet ihr bei:
– Buzzaldrins
– Aus.gelesen
– readpack
– Bücherphilosophin
– Winterkatzes Buchblog