
Eine Geschichte wie eine Weissagung
Kinder und Jugendliche tun sich schlimmes an. Das war schon immer so und das wird auch immer so bleiben. Kindheit ist ein hartes Geschäft. Doch was passiert, wenn einer dabei dieses ganze Spiel nicht erträgt, wenn es im Elternhaus nicht rund läuft und sich das so auf seine Psyche schlägt, dass ein Durchdrehen die logische Konsequenz ist? Das spielt Stephen King in seinem ersten Roman unter Pseudonym durch, lange bevor es Columbine, Erfurt, Winnenden und all die anderen Orte in die Schlagzeilen schafften, bei denen ein Amoklauf stattfand. Doch King wäre nicht King beziehungsweise in diesem Fall Bachmann, wenn er aus diesem Amoklauf etwas anderes macht. Ich habe dieses Buch vor Ewigkeiten schon einmal gelesen (es muss 2003 gewesen sein) und es hat sich vordergründig die Tat eingebrannt, jedoch nicht, was danach passierte. Ich hatte das Buch nicht mehr im Besitz und musste es mir nochmal kaufen und war erstaunt, dass es diesen Roman nicht mehr in einer aktuellen Ausgabe zu kaufen gibt. Den Grund dafür schreibt Gabriela in ihrem Beitrag auf dem Buchperlenblog. Stephen King hat im Jahr 2000 erwirkt, dass dieses Buch nicht mehr aktiv vertrieben werden soll, da es zu solchen Taten, wie sie im Buch beschrieben werden, anleiten oder inspirieren könnte. Ich verstehe die Gründe und bin da ganz auf Kings Seite. Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen, dass es solche Amokläufe auch ohne dieses Buch immer wieder geben wird und solche Geschichten zwei Seiten der Medaille darstellen.

Andeutung der großen Kunst der Figurenbeschreibung
Denn was King in diesem frühen Werk macht, ist die durchgehende Psychologisierung der gesamten Situation und wie der Amokläufer zwar zu Beginn im Mittelpunkt steht, jedoch im Verlauf der Handlung immer mehr in den Hintergrund gedrängt beziehungsweise ihm die Situation aus der Hand genommen wird. Hier deutet King eine seiner Stärken an, die ihn später für mich eingenommen haben und was viele an ihm immer noch nicht sehen wollen, weil für sie der Horror im Vordergrund steht. Er ist ein großer Manipulator seiner Figuren und schaut in deren Innenleben, als hätte er ihr Leben gelebt. Es ist wahnsinnig spannend, wie präzise er einzelne Figuren analysiert, vergangenes mit der Gegenwart verschränkt und sie so dem Urteil der LeserInnen aussetzt.
Doch was passiert denn nun genau? Der Schüler Charles Decker wird zum Direktor gerufen. Dieser teilt ihm mit, dass er wegen einem Vorfall, der sich einige Monate vorher ereignet haben muss und einen Lehrer ins Krankenhaus brachte, bald die Schule verlassen wird. Es soll alles unter Verschluss gehalten werden und still über die Bühne gehen. Wir wissen nichts weiter über den Schüler Decker, den Direktor und werden einfach mitten hinein geworfen. Man merkt, dass in Decker eine Art Unruhe innewohnt, die ihn steuert. Und so begleiten wir seinen Weg zurück zum Unterricht. Doch bevor er zurück ins Klassenzimmer geht, holt er aus seinem Spind eine Pistole und Munition und zündet den Spind an. Er geht auf direktem Weg zu seiner Klasse, geht in den Raum und erschießt die Lehrerin. Einfach so, weil er es in diesem Moment so will. Und die Klasse? Schaut seelenruhig zu. Keine Panik, eher stilles Entsetzen, gepaart mit einem Erstaunen über das, was da gerade passiert ist. Ab da entwickelt sich ein psychologisches Katz- und Mausspiel, innerhalb der Klasse und nach außen zwischen Charles und denen im Außengelände, die den Amoklauf beenden wollen.
Eine psychologische Achterbahnfahrt

Die eigentliche Tat, der Mord an der Mathelehrerin und einem anderen Lehrer, der zufällig den Weg Deckers kreuzt, passiert eher nebenbei. Danach entwickelt Bachmann ein Szenario, welches wie eine klassische Geiselnahme anmutet. Doch was hat Charles wirklich vor? Hat er sich durchdacht, was er machen will? So richtig ist das nicht klar. Die Tat selber erscheint eher eine Art Impuls aus einem kranken Kopf gewesen zu sein. Über das danach hat er sich keine Gedanken gemacht. Und genau deswegen nimmt ihm die Klasse die Situation aus der Hand, aber nicht so, wie man das als Leser erwarten würde, dass sie ihn überwältigen (das versucht eigentlich nur einer die ganze Zeit). Nein vielmehr nehmen sie den (nicht klassischen) Amokläufer als Anlass sich gegenseitig endlich Geständnisse zu machen, Beichten abzulegen, bittere Wahrheiten auszusprechen. Solche Dinge, die man im normalen Alltag weiterhin für sich verschweigen würde und im weiteren Leben an diesen kaputt geht, weil man sie nie ausgesprochen hat. Doch der Amoklauf bringt all das zutage und der Amokläufer ist dazu der Katalysator, der alles in Gang bringt. Bachmann aka King bringt all das mit seinem Gespür für die Figuren wunderbar zum Ausdruck und macht daraus ein Psychostück allererster Güte, so dass man, während der Roman voran schreitet, sogar vergisst, was zu Beginn des Buches eigentlich passiert ist.
King schreibt als Bachmann anders, was man sofort auf den ersten Seiten merkt. Es kommen keine übernatürlichen Saiten zum Anschlag, wie man es bei den Büchern, die er als Stephen King schreibt, sofort spürt. Hier ist es vielmehr die Anspannung, die von Charles Decker ausgeht. Die Schreibweise empfand ich zu Beginn des Buches noch ein wenig hölzern und ungelenk, was sich aber im Verlauf der Geschichte legt. Dazu muss aber angemerkt werden, dass King dieses Buch noch vor seinen ersten erfolgreichen Büchern Carrie und Brennen muss Salem geschrieben hat und testen wollte, ob diese Art von Geschichten ebenfalls funktionieren, wenn nicht sein Name darauf steht. Dazu hat er sich das Pseudonym Bachmann erdacht, mit vollständiger Biografie im Hintergrund, auf welche ich im Verlauf von meinem Projekt Stephen King vertieft eingehen möchte.
Völlig falsche Erinnerungen
Dieses Buch habe ich nun zum zweiten Mal gelesen und wurde dabei völlig überrumpelt, denn meine Erinnerungen daran waren mehr als verschwommen, wie sich im Nachhinein heraus stellen sollte. Das erste Mal habe ich das Buch im Jahr 2003 gelesen und es hat sich eigentlich nur der Amoklauf manifestiert, auch weil damals solche Amokläufe durch Columbine und Erfurt sehr präsent waren. Auch ich selbst war im Jahr 1999 sehr nah an so einer Tat dran, zumindest in derselben Stadt. Es war zwar kein Amoklauf im herkömmlichen Sinne, aber die Tat war ähnlich zu der gelagert, wie sie im Buch passiert und das hat mich beim ersten Lesen ganz schön mitgenommen, da die damaligen Gedanken und Verwirrungen beim Lesen wieder an die Oberfläche stiegen.
Nun aber mit dem Abstand der vielen Jahre konnte ich diese Geschichte anders lesen und da geht es nicht vordergründig um den Amoklauf, sondern vielmehr um die Psyche der Jugendlichen und den Umgang mit dieser Tat. Man kann das als Gut oder auch Schlecht empfinden. Ich für meinen Teil fand es erstaunlich, wie locker und selbstbewusst die Figuren in diesem Buch die Tat einfach hinnehmen. Das empfand ich schon als etwas seltsam und unangemessen der Situation gegenüber und macht solchen Menschen wie Charles Decker vielleicht sogar Mut, denn man erreicht ja etwas. Unter diesen Gesichtspunkten verstehe ich Stephen King und die Herausnahme des Buches aus dem Buchhandel, denn es birgt sehr viel Sprengstoff, um mal einen anderen Titel seiner Bachmannwerke zu bemühen.
Ein Buch welches einen sehr nachdenklich stimmt
Es mag nicht alles gut sein an diesem Buch, aber betrachtet man nur die psychologische Schiene, dann ist es sehr gut gelungen und spannend geraten. Man merkt hier an, was King/Bachmann in seinen späteren Werken vor allem ausmacht – die starke Beschreibung seiner Figuren, so dass man von Anfang an mit ihnen mitfiebert. In vielen Fällen gelingt ihm das richtig gut. Der Schreibstil ist noch etwas hölzern geraten, da merkt man zum einen die Anfangszeit im Schreiben von King an und auch die etwas komischen Übersetzungen der damaligen Zeit. Insgesamt bekommt man mehr psychologisches Kammerspiel als Amoklauf geboten und ein überraschendes, passendes Ende noch dazu.
P.S.: Das Buch ist nur noch gebraucht erhältlich.
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Sehr gelungene Besprechung! Dass King sich gegen einen anhaltenden Verkauf ausgesprochen hat, kann ich zwar nachvollziehen und sein moralisches Verantwortungsbewusstsein könnten sich manch andere Autoren durchaus als Vorbild nehmen. Als Medienpädagogin kann ich über diese „mein Buch macht Kids zu Mördern“-These aber nur müde den Kopf schütteln, weil kein Medium allein jemanden zu so einer Tat verleitet und viele Faktoren reinspielen. Das heißt jedoch nicht, dass ein zu laxer Umgang mit dem Thema okay ist und wenn dies in dem Buch der Fall ist, ist ein Rückzug vom Buchmarkt berechtigt, aber eben aus dem Grund einer Verharmlosung und nicht aufgrund vermeintlicher Kausalität.
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Hallo Marc!
FunFact: Während des Lesens hatte ich auch das Gefühl, die Tat mit dem Schraubenschlüssel müsse länger her sein, aber laut sämtlichen Quellen im Internet passierte das Ganze nur einen Tag vorher. Was irgendwie auch Sinn macht, aber die Beschreibung der Tat im Buch selbst wirkt so distanziert, dass sie wirklich Monate her sein könnte.
Schöne Besprechung im Übrigen!
Alles liebe,
Gabriela
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