Ein Dorf ohne Erwachsene
Lucia Leidenfrost hat eine Art Dystopie geschrieben, bei der es in einer Gegend keine beziehungsweise einen Fortzug an Erwachsenen gibt und die Kinder immer mehr die Führung übernehmen. Die Autorin entwickelt daraus eine Art Milieustudie, die aufzeigt, wie Kinder ohne Führung durch Erwachsene eine brutale, gewaltvolle Gesellschaft hervorbringen. Sie exerziert das im Kleinen mit einigen Lücken, aber auch Ungereimtheiten durch, so dass dieses Buch trotz eines interessanten Grundgedankens leider kein komplett gutes Buch geworden ist.
Siehe, was passiert, wenn die Kinder das Sagen haben
Ein Dorf ohne Namen, irgendwo in einem unbekannten Land. So weit ist erst einmal alles normal, doch bei näherem Hinsehen ist da nichts normal, denn in diesem Dorf verschwinden nach und nach die Erwachsenen. Doch warum ziehen sie weg? Die Eltern schreiben Briefe an ihre Kinder, schicken Pakete und sagen, dass sie Arbeit suchen und auch gefunden haben. Sie versprechen, ihre Kinder irgendwann, wenn sie genug verdient haben, mit in die Stadt zu holen. Später wird auch ein kriegerischer Konflikt vorgeschoben, der dann durch die Großeltern zum Anlass genommen wird, ebenfalls aus dem Dorf zu verschwinden. Nach und nach sind die Kinder auf sich allein gestellt. Erst müssen sie sich noch um die Großeltern und ganz Alten kümmern, doch als das auch weg fällt sind sie „frei“ von allen erwachsenen Pflichten und Vorgaben. Irgendwann, als alle Vorräte aufgebraucht sind und die Eltern auch keine Briefe mehr schreiben, merken die Kinder, dass etwas nicht stimmt. Doch da ist es schon längst zu spät. Sie haben Dinge getan, die sich nicht mehr umkehren lassen und die Kinder in ihrem tiefsten Inneren verändert haben.
Eine extreme Sozialstudie
Was passiert, wenn man Kindern Verantwortung überträgt und sie damit auch noch allein lässt? Würde alles noch in normalen Bahnen verlaufen oder würde alles enthemmter, brutaler und schlimmer werden als bei den Erwachsenen? Würden sie sich gegenseitig Dinge antun, da sie noch kein ausgeprägtes System der Hemmung entwickelt haben? Schlimmere Dinge als nur ein bisschen hin- und herschubsen, wie auf dem Pausenhof in der Schule? Würden sie, wenn keiner mehr Vorgaben macht, noch zur Schule gehen und sich selbst das Lernen lehren, Bücher lesen, um sich Wissen anzueignen?
All diese Fragen nimmt Lucia Leidenfrost auf und verdichtet diese in einen sehr düsteren Roman um ein Dorf, in dem es genauso zugeht wie gerade beschrieben. Den wahren Grund, warum die Erwachsenen das Dorf verlassen, erfahren wir als Leser*in nicht. Es bleibt genauso im Unklaren wie der Verbleib der Erwachsenen an sich und warum sie überhaupt nicht zurück kehren. Es wird zwar immer von einer Stadt erzählt und das die Kinder Briefe von ihren Eltern erhalten, jedoch wirkt es vielmehr so, dass die Eltern und Großeltern einfach vor ihren tyrannischen (?) Kindern flüchten und sie einfach ihrem Schicksal überlassen. Das wäre die eine Seite des Romans. Die andere, viel spannendere, ist die, was die Kinder aus dieser Situation machen. Und das zeigt die Autorin gnadenlos auf. Aus der Sicht des Mädchens Mila wird ein Teil der Geschichte erzählt. Sie ist eine der wenigen, die nicht das Recht des Stärkeren umsetzen will und bildet damit einen Gegenpol zum Wir, aus dessen Sicht die anderen Abschnitte erzählt sind. Während Mila zum Beispiel die Schule wieder öffnen will, notfalls sogar selber als Lehrerin fungieren möchte, werden die anderen Kinder in der Gemeinschaft immer verwegener und brutaler untereinander und gegen Mila persönlich, da ihnen keine Instanz mehr Einhalt gebietet. Das wird vor allem an den Situationen verdeutlicht, bei denen die Kinder Waffen wählen, um ihre Ziele zu erreichen. Sind es erst irgendwelche Holzknüppel werden die Mittel immer gefährlicher, bis Mila sogar eine Pistole findet und es zu einem tödlichen Zwischenfall kommt. Das alles packt Lucia Leidenfrost in mal mehr mal weniger dramatische Bilder, lässt dabei aber auch größere Lücken, bringt nur Anspielungen rein, und wir müssen versuchen, über das Warum des Ganzen zu rätseln. Schlussendlich wirkt der Roman wie ein großes Experiment in Textform gegossen, indem beschrieben wird, was Kinder aus sich selbst machen, wenn kein Erwachsener draufschaut, was sie tun. Es wirkt ziemlich erschreckend, was sie da zu Papier gebracht hat.
Große Freiheiten münden in kindlicher Gewalt
Während wir Erwachsenen uns zumeist unter Kontrolle halten können, moralische Instanzen heran ziehen, notfalls Gerichte entscheiden lassen, besitzen Kinder keines dieser Werkzeuge beziehungsweise müssen erst lernen diese zu benutzen. Doch wie, wenn keine Erwachsenen mehr da sind, um es ihnen beizubringen. Daraus wurde ein Buch, das eine erschreckende Dynamik aufweist, wie dieses Dorf der Kinder zu einer brutalen Truppe von Schlägern, Mördern und psychisch angegriffenen Personen werden (können). Es ist erschreckend zu beobachten, wie das ablaufen würde und das beschreibt Lucia Leidenfrost sehr präzise. Leider fehlen an anderen Stellen ein paar Infos zu viel. Zum Beispiel war mir das komplette Leben außerhalb des Dorfes komplett fremd. Auch dieses Allein lassen der Kinder im Dorf hatte keinen bestimmten Hintergrund, es geschah einfach. Hier hätte ich mir noch ein paar Andeutungen gewünscht. So ist es leider ein Roman geworden, der eine spannende Ausgangslage bietet, diese auch innerhalb gewisser Grenzen auslotet, jedoch durch fehlende Begleitbeschreibungen diesem Thema die volle Wucht nimmt. Ein Buch, das interessanten Diskussionsstoff bietet, aber leider zu wenig Fleisch bietet, um dauerhaft im Gedächtnis zu bleiben.
Dieses Buch habe ich im Rahmen des Bloggerpreises zum besten Debüt 2020 gelesen und es wurde mir für diese Zwecke vom Verlag zur Verfügung gestellt. Die Meinung zum Buch und die Bewertung für den Preis hat das nicht beeinflusst. Der Preis zum besten Debüt wird in diesem Jahr zum fünften Mal ausgerichtet und ich sitze zum vierten Mal in der Jury, um das beste Debüt zu ermitteln. Die Shortlist zu diesem Preis ist seit Ende November online und kann auf dem Blog Das Debüt eingesehen werden (siehe hier – klick). Auch wer in der Jury sitzt, wie dieser Preis zustande kam und wie das alles funktioniert, findet ihr auf den weiterführenden Seiten zu diesem Blog.