Die Realität holte die Fiktion schnell ein
Mit Mr. Mercedes und mir hat es lange gedauert, bis ich das Buch endlich lesen konnte. Dieser Band steht schon seit Erscheinen in meinem Schrank, allerdings hat mir die Realität diese Fiktion schnell verhagelt. Denn der Anschlag, bei dem ein Auto in eine Menschenmenge gejagt wird, ist schon mehrfach in der Wirklichkeit wiederholt wurden und ein unbeschwertes Lesen, Vergnügen gar, war nicht mehr möglich. Allein dieser Gedanke hat mich ständig verfolgt, wenn ich zu dem Buch greifen wollte. Doch nun habe ich mich endlich überwunden und konnte dieses Buch, abgesehen von der Eingangssequenz „genießen“. Die Anfangsszene hat mir wie erwartet zu schaffen gemacht. Doch was Stephen King danach aufs Papier gebracht hat, ist ein Pulstreiber ohnegleichen und ist dazu richtig spannend geraten, mit Figuren, die einem richtiggehend ans Herz wachsen.
Doch warum habe ich dieses Buch gerade jetzt gelesen? Da Stephen King die Reihe um den Mercedes-Killer und den Rentnercop Bill Hodges auf drei Teile angelegt hat und dieses Universum mit Der Outsider und einer der vier Geschichten aus Blutige Nachrichten noch erweitert hat und ich diese Bücher allesamt verpasste (man will ja nicht mittendrin einsteigen), sah ich den Tatsachen ins Auge, dass ich neben dem chronologischen Leseprojekt nun auch zumindest diesen Teil seines Schaffens aufholen wollte, um auch bei den Neueren Büchern nicht ganz abgehängt zu sein.
Ein Auto wie ein Panzer
Die Eingangssequenz ist kurz gehalten. Es warten Hunderte von Menschen vor einem Gebäude, in dem in wenigen Stunden Jobs vermittelt werden. Wir befinden uns mitten in einer der größten Krisen in der Geschichte der USA. Die Bankenkrise ist ganz frisch über das Land gekommen und Immobilienblase ist geplatzt. Viele verlieren ihre Arbeit, haben kein Geld und suchen Job. Selbst Frauen warten mit ihren Babys, weil sie sonst niemanden haben, der auf das Kind aufpasst. In diese Menschenmenge rast Brady Hartfield (kein Spoiler, der Name fällt recht früh) mit einem gestohlenen Mercedes und bringt so acht Menschen um und verletzt einige mehr.
Doch diese Tat ist erst der Anfang, denn Brady will noch mehr, in seinem Kopf hat er sich schon neue Opfer erkoren, neue Ziele im Auge, die im engen Zusammenhang mit dem Anschlag stehen. Zum einen die Besitzerin des Mercedes und der ermittelnde Polizist in diesem Fall, Bill Hodges, der in der Zwischenzeit in den Ruhestand gegangen ist. Die Geschichte beginnt bei Bill, indem er ihm einen Brief schickt und sich erklärt. Warum er es getan hat und das er es nie wieder tun wird. Das zum einen. Zum anderen will er Hodges dazu bringen, dass er sich selbst umbringt, um sich einen nächsten Kick zu geben. Doch mit diesem Brief wendet sich das Blatt und er Brady weckt schlafende Hunde. Bill Hodges beißt anders an, als es Hartfield sich je zu träumen wagte und sieht sich alsbald in die Ecke gedrängt. Eine wilde Katz und Maus – Jagd beginnt, mit Opfern auf beiden Seiten.
Intensiver Thriller ohne Horror
Das Stephen King auch Horror ohne übernatürliche Ansätze schreiben kann, war mir vorher schon bewusst (zum Beispiel bei dem Büchern Cujo; Frühling, Sommer, Herbst und Tod oder Misery), doch hier packt er noch einmal bewusst ein anderes Genre an, welches ich so von ihm noch nicht gelesen habe – den Thriller. Ganz ohne Horror, nur Suspense und einen krankhafter Psychopath, der sich selbst für den Klügsten hält. Er feuert hier einen gnadenlosen Zweikampf ab, der sich vor allem zwischen den Hauptfiguren Bill Hodges und Brady Hartfield abspielt, aber nach und nach auch andere Nebenfiguren involviert, wovon eine sogar einen richtig bleibenden Eindruck hinterlässt (und ich weiß, dass sie in späteren Büchern noch mehrfach auftauchen wird).
Die Ausgangslage ist simpel gestaltet und sehr intensiv. Ich persönlich habe da mitgelitten, auch wenn alles sehr schnell ging und kurz abgehandelt wurde. Es passiert aus dem Nichts, ganz so, wie es in der Realtität auch immer wieder ist, sobald ein Anschlag ähnlicher Natur passiert.
Doch Stephen King überzeugt hier mit weiteren Qualitäten, die man aus seinen Horrorromanen kennt, woraus er hier aber einen waschechten Thriller schmiedet. Zuvorderst die Figuren, die bis auf eine Ausnahme am Anfang wie Abziehbilder wirken. Auf der einen Seite der abgehalfterte Ex-Cop, der sich einfach fettfrisst und bei seichter Fernsehunterhaltung so langsam in eine Depression gerutscht ist und mit Selbstmordgedanken spielt. Und dem gegenüber gestellt, der achso schlaue Psychopath, der denkt, ihm kann nichts auf der Welt passieren und seine Spielchen immer weiter treibt. Doch aus diesem simplen Zweikampf bricht so nach und nach mehr aus den Figuren heraus, so ist Bill Hodges ein scharfer Analyst der gesamten Situation, der sich nur manchmal zu leicht vom offensichtlichen ablenken lässt und der Psychopath ist nur eine arme Wurst, der ausversehen einen wachen Verstand bekommen hat und dem das Schicksal übler mitgespielt hat als anderen. Wären es nur diese beiden, könnte das Buch nicht bestehen, da dieser simple Zweikampf letztendlich trotz der präsenten Hauptfiguren zu wenig bietet. Doch Stephen King führt nach und nach eine Handvoll Nebenfiguren ein, die Bill und Brady Tiefe verleihen und sie dadurch erst richtig in Fahrt kommen.
Simple Ausganslage, effektive Spannung
Stephen King ist bei aller Euphorie, die ich nun ausstrahle, nicht der ganz große Wurf gelungen, wenn man das Buch in sein Gesamtwerk einordnen soll. Es ist ein simpler Plot, der dem Buch zugrunde liegt. Und doch ist es nicht nur solide Thrillerkost. Es ist mehr als das, denn gerade in den Zwischenzeilen spielt auch ein wenig die Musik. Dafür hat King immer ein Näschen und bringt die Stimmung in der die USA sich um das Jahr 2010 herum befand, treffend zu Papier. Überraschend ist vor allem, dass kein Funke Horror auftaucht (je nachdem, wie man das definiert), sondern nur realistische Thrillerelemente im Stile eines Pageturners, ohne direkt einer zu sein. Dieser Spannungsroman ist vielmehr nach der klassischen Art geschrieben ohne große Cliffhanger pro Kapitel um einen unbedingt zum Weiterlesen zu motivieren, dafür sorgt die Geschichte schon ganz allein. Es hat auch Spaß gemacht, den Figuren beim Wachsen zuzusehen. Wie sie allesamt aus ihrer Schale herausgebrechen und teilweise über sich hinaus wachsen. Insbesondere die Nebenfigur der Holly Gibney, die zirka ab der Hälfte des Buches hinzukommt, macht eine Menge Spaß und ich freue mich schon darauf, mehr von ihr in den weiteren Bänden, die im Bill Hodges-Universum spielen, zu lesen.
Fazit ist, dass es King gelingt, dem einfachen Zweikampf einiges mehr abzugewinnen, als man es am Anfang vermutet, und diesen Roman dadurch sehr vielschichtig gestaltet und die Basis für die kommenden Romane legt. Das Buch scheint in sich geschlossen lässt aber genug Potential offen, in dem sich die Figuren weiter entfalten dürfen. Ob das beim Schreiben schon so angelegt war, würde ich stark befürworten, da King seine Bücher weit im Voraus plant und die weiteren Teile in seinem Kopf bestimmt schon existierten. Wer sich also mit Stephen King beschäftigen und diesem Autor eine Chance geben möchte und vielleicht einen Einstieg in sein Schaffen sucht, der sollte unbedingt Mr.Mercedes in Betracht ziehen, denn es ist ein gutes Buch und mit keinem Horror verknüpft, für den dieser Autor so bekannt ist (wobei das in meinen Augen immer wieder Quatsch ist, aber dazu werde ich sicher noch was schreiben).
Danke für deine Rezension. Ich habe die Trilogie schon gelesen und fand sie super.
Ich mochte auch die 3 Serienstaffeln von „Mr. Mercedes“. King hat da sogar einen kleinen Cameoauftritt. Und Holly wird da auch sehr liebenswert dargestellt.
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Ich bin seit der Trilogie ein großer Fan von Holly Gibney. Die taucht in „Blutige Nachtichten“ auch noch mal auf. Eigentlich ist sie eine Nebenfigur. Ich find es großartig wie King selbst Nebenfiguren so viel Leben einhaucht, dass man sie von ganzem Herzen mögen kann.
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