Jedes Jahr aufs Neue freue ich mich auf eine Liste an Büchern, für die ich alle anderen Lektüren stehen und liegen lasse. Es handelt sich dabei um die Shortlist zum Debütpreis, der vom Blog Das Debüt ausgeschrieben wird und für die 2022er Edition in die nunmehr 7.Runde geht. Doch in diesem Jahr war es für mich etwas Besonderes in eher zwiespältigen Sinne, denn ich hatte mich Anfang des Jahres dazu entschlossen, das Bloggen und die gesamten Aktivitäten um das Besprechen von Büchern auf Instagram, Facebook und Co vorerst auf Eis zu legen. Sollte ich nun auch die Juryarbeit in diesem Jahr ruhen, es in diesem Jahr komplett an mir vorbei laufen lassen? Die ersten Wochen nach Verkündung der Shortlist (klick mich) seitens Bozena und Janine, die die Seite Das Debüt betreiben, war ich hin- hergerissen und habe mich dann doch kurzfristig entschieden, mich an die fünf Bücher zu wagen. Allzu dick waren die nominierten Titel zum Glück nicht, so dass ich mich guten Gewissens ans Werk machen konnte. Gesagt, getan, Anfang Februar begonnen und innerhalb von 3 Wochen vier Bücher durchgelesen und das fünfte, das ich im Rahmen des Deutschen Buchpreises gelesen hatte, ins Gedächtnis zurück geholt.
Nun möchte ich euch in diesem großen Beitrag kurz die Bücher vorstellen, meine Meinung dazu aufschreiben und sogar auch gleich meine Platzierungen für den aktuellen Debütpreis nennen. Nochmal zur Erinnerung, insgesamt läuft es so ab, dass alle aus der Jury (die Vorstellungsrunden findet ihr hier – Teil 1, hier – Teil 2 und hier – Teil 3) ihre Favoritentitel nennen und am Ende gewinnt das Buch mit den meisten Punkten. So einfach das nun klingt, so schwer ist die Entscheidung für mich selbst, eines der Bücher auf meinen persönlichen ersten Platz zu hieven. Aber ich werde versuchen, besten Gewissens zu entscheiden.
Doch nun möchte ich euch die Bücher vorstellen, indem ich euch kurz sage, um was es geht und die Eckdaten der Bücher (Autorin, Titel, Seitenzahl, Verlag) mit dazu schreiben. Auf geht’s!
Die fünf nominierten Titel der Shortlist im Schnelldurchlauf

Es geht um Schwein, um Dachs, um Biber, der Schwein verlassen hat und um Gott und wie alle ins Jenseits gelangen.
Diese Geschichte ist eine Fabel, wie sie im Buche steht. In einer komischen, abstrakten, ja fast kindlichen Sprache, zeigt sie uns den Weg zu Gott und sogar ins Jenseits. Jedoch nicht so, wie wir uns das vorstellen, denn Dachs hat eine Maschine erfunden, mit der man zum Beispiel von der Erde zu der Welt, in der Gott zu Hause ist, wechseln kann und eben auch ins Jenseits. Doch diese eine Reise ins Jenseits gestaltet sich schwieriger als gedacht und erst recht das Zurückkommen. Das alles ergibt eine wirklich komische Fabel, um ein Schwein, das durch Liebeskummer bedingt, wirklich und wahrhaftig ins Jenseits möchte und nicht mehr davon loskommt. Doch was ist mit Gott, wenn man ihn aus seiner angestammten Umgebung herausnimmt und ins Jenseits verfrachtet? Was passiert dann mit ihm? Damit müssen sich Schwein und Dachs auseinandersetzen und dazu noch einen Weg zurück nach Hause finden.
Noemi Somalvico | Ist hier das Jenseits, fragt Schwein | Voland&Quist | 144 Seiten

Die Nordstadt ist das schlimme Viertel einer nicht näher benannten Stadt im Ruhrgebiet. Dieses Viertel würde man wohl als Problemviertel bezeichnen, in das man nicht unbedingt freiwillig ziehen will. Dort, wo die Menschen wohnen, die weniger Geld verdienen, die anscheinend mehr Probleme, dafür weniger von allem anderen haben. Nene wohnt in diesem Viertel und erzählt über ihre kurze Liebesgeschichte mit Boris und mixt in diese Erzählung ihre Lebensgeschichte, die größtenteils von Gewalt seitens des Vaters, durch Alkohol induziert, und der Abwesenheit der Mutter geprägt war. Und auch sonst hatte diese Kindheit im Norden der Stadt kaum erheiterndes zu bieten hat. Da kommt die Beziehung zu Boris, der es im Leben auch nicht einfach hat(te), gerade recht. Und obwohl dieses Buch mit einer Liebesgeschichte beginnt, wird viel traumatisierendes behandelt. Die Beziehung zwischen Boris und Nene ist in diesem Buch nur ein kleiner Aspekt von vielen anderen Punkten, die in diesem unglaublich vielschichtigen Buch transportiert werden, denn auf gerade mal 128 Seiten erzählt uns die Autorin unglaublich dicht und nah an den Menschen.
Annika Büssing | Nordstadt | Steidl Verlag | 128 Seiten

Slata Roschal hat für ihr Romandebüt eine besondere Form gefunden, um eine Geschichte zu erzählen, die sich in gewissen Teilen auch mit ihrer eigenen Vergangenheit überschneidet. In den titelgebenden 153 Formen des Nichtseins ergründet sie für die Hauptfigur, die wohl an Erfahrungen der Autorin angeknüpft sind, eine Identitätsfindung, die sich in mannigfaltiger Form darbietet, in ebenjenen 153 Textfragmenten, Alltagsbeobachtungen, Ausschnitten aus dem Buch der Zeugen Jehovas und vielem mehr. Die Hauptfigur ist eine Einwanderin russischstämmiger Vorfahren namens Ksenia, die eine jüdische Form der Zeugen Jehovas ausleben, unter dem Ksenia besonders zu leiden hat, da sie keine Freunde haben darf und alles in ihrem Leben den Zeugen unterordnen muss. Bis sie alt genug ist, um aus diesem System auszu- und damit auch mit ihrer Vergangheit zu brechen. Doch so einfach kommt man von der Vergangenheit nicht los. Als Erwachsene und mit der Geburt des ersten eigenen Kindes stellt sie sich die Frage, wer sie eigentlich ist und was genau ihre Persönlichkeit ausmacht, denn in Russland würde sie als Deutsche angesehen und in Deutschland als Russin. Doch sie vereint doch beides in sich, hat sich in Deutschland integriert und trägt die russische Vergangenheit in sich. Eine wahre Zerreißprobe. Diesen Roman habe ich im Zug der Vergabe des Deutschen Buchpreises 2022 gelesen und auf dem Blog We read Indie besprochen (klick mich)
Slata Roschal | 153 Formen des Nichtseins | Homunculus Verlag | 176 Seiten

Was können Eltern bei ihren Kindern anrichten mit ihrem Tun? Was passiert in den Köpfen der Kinder, wenn der Vater gewalttätig ist, die Mutter zurückhaltend und die Angst vor den Schlägen und Demütigungen tagtäglich vorhanden ist? Diesen Frage geht Claudia Schumacher nach, indem sie anhand der Familie Ehre und der Tochter Juli von drei konkreten Zeitebenen linear durcherzählt, wie groß der Schaden sein kann, der physische und psychische Gewalt anrichten kann.
Den Anfang macht das Buch, indem wir mit Juli in einer Kurklinik einchecken, in der sie aus vorerst nicht näher bestimmten Gründen ist und wir einen ersten Eindruck davon bekommen, wie diese zu diesem Zeitpunkt 17 Jährige tickt und durch was sie geprägt wurde. Wir verfolgen ihren Weg weiter bis hin zu einem vermeintlich schönen Ziel, dem gutbürgerlichen Leben in der Schweiz mit Hochzeit und einem gutbürgerlichen Leben. Aber ist es das Richtige für diese geschundene Seele? Kann sie so zur Ruhe finden, die sie so bitter nötig hat? Schüttet sie da nicht etwas zu, was eigentlich zu bewältigen wäre, um sie endlich von einer Last zu befreien? Das ist eine der zentralen Fragen, die dieses Buch beantwortet, denn all das, was Kindern in jungen Jahren angetan und später abgetan, ja verdrängt wird, bricht sich über kurz oder lang Bahn und kann schwerwiegende psychische Schäden verursachen.
Claudia Schumacher | Liebe ist gewaltig | dtv Verlag | 376 Seiten

In diesem Roman geht es episodenhaft zu. Wir lernen eine Mutter kennen, die eine Art Sitzstreik in der Kita anzettelt, dem sich nach und nach mehr Eltern anschließen und letztendlich auch die Kitaleitung, um für bessere Unterbringungsbedingungen zu kämpfen. Dann ist da noch eine Frau, die nach vorne hin einem normalen Job nachgeht und hinten herum das Erbe des Vaters an der Börse verzockt. Eine Aktivistin kämpft für bessere Nahrungsmittel und versucht, große Firmen mit dem Konzept zu überzeugen, das ihre Firma anbietet, bis sie vor lauter Stress und nach einer schlimmen Nachricht durchdreht. Beim Dienst im Amt wird großer Ungehorsam ausgeübt, indem von einer Sachbearbeiterin alle Fälle von Einreisegesuchen positiv gestempelt werden. Und eine Frau hebt völlig ab, denn sie ist Astronautin auf der ISS und wir sehen ihr bei den dortigen Experimenten über die Schulter, bis etwas fürchterlich schief läuft.
Alle diese Geschichten erscheinen im ersten Augenblick recht zusammenhanglos, doch kommen nach und nach die Verbindungen zutage und ergeben ein großes Bild von starken, mutigen und auch angsterfüllten Frauen, die ihren Weg in dieser unsteten Welt gehen und auch meistern.
Ursula Knoll | Lektionen in dunkler Materie | Edition Atelier | 248 Seiten

Einordnung und Entscheidung
Jedes Jahr wenn die Shortlist für den Debütpreis bekannt gegeben wird, schaue ich gespannt, welche Werke ich davon schon über das zurückliegende Jahr gelesen habe oder ob überhaupt ein mir bekanntes Buch darauf vertreten sein wird. Oft war es schon so, dass auf der Liste ein Buch vertreten war, dass ich schon weit im Vorlauf zum Debütpreis gelesen und dieses eine Werk schon länger die Chance hatte, sich bei mir im Kopf mit seiner Geschichte einzunisten. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir dabei Bettina Hilperts „Nichts, was uns passiert“, das im Jahr 2018 den Preis gewonnen hat und auch bei mir persönlich am besten abgeschnitten hatte. Oder im Jahr 2020 als Streulicht gewann, wurde dieses Buch schon im Vorfeld der Shortlistbekanntgabe von mir gelesen und hatte somit einen besseren Stand als die restlichen vier Kandidat*innen.
War das auch in diesem Jahr der Fall? Was den Fakt angeht, dass wieder ein Buch auf der Shortlist stand, dass ich im Vorfeld schon gelesen habe? Ja, wie ihr in der Vorstellung der Bücher oben lesen konntet! Die anderen vier Bücher hatten somit weniger Zeit bei mir etwas auszulösen und nachzuwirken. Konnte es einer dieser vier Romane schaffen, gegen das Nichtsein zu bestehen?
Bevor ich diese Frage beantworte muss ich noch einwerfen, dass die diesjährige Shortlist eine große Qualität inne hat, denn war es bisher so, dass immer ein oder zwei Bücher bei mir persönlich etwas schlechter abgeschnitten haben, so waren in diesem Jahr, zumindest handwerklich gesehen, alle fünf Bücher auf einem gleich hohen Niveau. Zwar alle auf ihre Art, aber es hat einen Riesenspaß gemacht von allen fünf Autorinnen die Bücher zu lesen und zu werten.
Gegen die inhaltliche Ausrichtung muss ich natürlich meinen persönlichen Geschmack mit in den Ring werfen und da kamen dann doch ein paar Unterschiede ins Spiel, die letztendlich auch den Ausschlag über die jeweilige Platzierung geben. Und nun will ich euch nicht länger auf die Folter spannen und präsentiere euch meine Platzierungen.
- 5.Platz – Ist hier das Jenseits fragt Schwein (0 Punkte)
Leider, leider konnte mich diese Fabel nicht erreichen. Sie ist handwerklich gut gemacht, zieht ihren Stil der kindlichen, niedlichen Sprache bis zum Schluss durch und kann auch durch und durch mit Charakteren aufwarten, die alle ihre Macken haben und man sie gerade deswegen ins Herz schließen möchte. Aber doch wollte es zwischen mir und dem Buch im Vergleich zu den anderen 4 Büchern am wenigsten zünden. Daher der undankbare 5.Platz für ein trotzdem wunderbares Buch in vielen Belangen, denn trotz dieser Bewertung habe ich den Text recht gerne gelesen und würde ihn auch weiter empfehlen.
- 4. Platz – Lektionen in dunkler Materie (0 Punkte)
Diese Platzierung ist ebenso undankbar, da es im Vergleich zu den restlichen drei Büchern eigentlich kaum Unterschiede gibt, dass es nun bei mir persönlich auf der Blechplatzierung gesetzt wird. Vielmehr entscheiden Nuancen darüber, dass Ursula Knoll bei mir letztendlich auf dem 4.Platz landet. Es ist eine wunderbare Geschichte mit vielen, kleinen Einzelbeobachtungen, die sich insgesamt am Ende zu einem Ganzen fügen. Doch dieses Episodenhafte wollte bei mir nicht so recht passen, denn einige interessante Einzelfiguren bekamen dadurch leider nicht den angemessenen Platz, den sie verdient gehabt hätten. Das wirkte an bestimmten Stellen noch etwas unrund. Andererseits bleibt auch vieles geheimnisvoll, was den Roman und seine Episoden wiederum interessanter macht. Letztendlich hat der in meinen Augen etwas übertriebene Schluss mit wahnsinnigen Schreckensmeldungen rund um den Globus für Irritation gesorgt, wollte das nicht so recht zum restlichen Roman passen und wirkte leider irgendwie drangebastelt und nicht zum Rest dazu gehörig. Wie ich aus einem Interview mit der Autorin bei dem Podcast „Auf ein Buch“ heraushören konnte, war das Ende um einiges anders geplant (sogar um einiges verschärfter – klick mich). Rudimentäre Reste dessen, was ursprünglich geplant war, haben mich den Roman dann ratlos beiseite legen und in der Gesamtwertung auf diesen undankbaren Platz setzen lassen.
- 3. Platz – Liebe ist gewaltig (1 Punkt)
Knapp den vorderen Plätzen musste sich bei mir „Liebe ist gewaltig“ geschlagen geben, was nicht ganz fair ist, denn alle drei Romane auf den Plätzen 1 bis 3 unterscheiden sich eigentlich nur durch wenige Nuancen und eigentlich kann man diese drei nicht so direkt miteinander vergleichen. Sie haben alle einen gemeinsamen Ankterpunkt – Gewalt gegen Kinder, entweder physisch oder psyschisch oder sogar beides.
Dieser Roman ist jedenfalls eine Tour de Force sondergleichen und auch richtig gut geschrieben, dass man mit der Hauptfigur die ganze Zeit mitleidet. Doch ähnlich zu „Lektionen in dunkler Materie“ geht auch diesem Titel auf den letzten Seiten ein wenig die Luft aus. Die vorher aufgebaute Situation und Anspannung kann nicht vollends gehalten werden und eigentlich ist dieser Titel (fast) nur aus diesem Grund auf dem Bronzeplatz gelandet. Alles andere empfand ich als nahezu perfekt aufgebaut und sprachlich wunderbar transportiert.
- 2. Platz – Nordstadt (3 Punkte)
Dieser Roman ist rotzfrech mit einer Sprache, die den Figuren entspricht. Außerdem ist die Geschichte rund erzählt, zeigt schlechte Dinge auf, die in Kindheitstagen passieren können (Gewalt an Kindern, Vernachlässigung, Übergriffigkeiten) und wie sie einen als Erwachsenen prägen. All das wird auf knapp über 100 Seiten kondensiert aufgezeigt und mehr braucht es für dieses Buch auch nicht und damit ein verdienter zweiter Platz. Mehr brauche ich dazu auch nicht zu sagen. Es ist ein wunderbares Buch mit einer Geschichte, bei der kein Wort zu viel erscheint. Es muss sich eigentlich nur dem Stil von meinem persönlichen Gewinnerbuch geschlagen geben.
- 1. Platz – 153 Formen des Nichtseins (5 Punkte)
Und nun ist es zum dritten Mal passiert, dass ich ein Buch, das ich schon weit im Vorfeld gelesen hatte, auf den ersten Platz beim Bloggerpreis für das beste Debüt setze. Diesmal trifft es das Buch 153 Formen des Nichtseins aus dem Homunculus Verlag. Ich bin bei diesem Titel immer noch gang hin und weg, da sich bei mir alles irgendwie eingebrannt hat. Ich fand die Art, wie der Roman aufgebaut ist, richtig gut gelungen, wenn auch manchmal sehr irritierend. Dadurch hatte die Autorin Mittel in der Hand, ihr Anliegen auf vielfältigste Weise zu transportieren und mit der Sprache zu spielen. Dadurch gibt es in diesem Buch immer wieder Überraschungsmomente, die einen entweder mit einem Staunen oder wenigstens neugierig irritiert zurücklassen. Daher für mich das perfekteste Debüt aus der diesjährigen Shortlist und bei mir persönlich verdient auf Platz 1.
Und nun?
Am 01.03.2023 werden alle Jurymitglieder ihre Platzierungen bekannt geben und ich bin schon wahnsinnig gespannt, wie sich in diesem Jahr die Gesamtwertung ausnehmen wird. Im letzten Jahr wahr ich sehr prophetisch unterwegs, da meine Bewertung sich quasi 1:1 mit der Gesamtwertung gedeckt hat. Ob das in diesem Jahr auch so sein wird? Ich werde es auf jeden Fall mit gespannten Augen beobachten und sobald die Gewinnerin der 2022er- Ausgabe vom Debütpreis feststeht, werde ich den Beitrag vom Blog Das Debüt hier verlinken.
Und nun heißt es erstmal mit gespannten Augen beobachten, wer den Preis abräumen wird und ich drücke allen 5 Autorinnen die Daumen. Ihr habt es alle verdient mit euren wunderbaren Büchern.